EGMR: Ungarn hat die Rechte von “index.hu” aus Art. 10 EMRK verletzt

Am 7. September 2023 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden, dass Ungarn dem Newsportal „index.hu“ eine Entschädigung in Höhe von 5.520 € zahlen muss.

EGMR Urteil vom 07.09.2023 – 77940/17

Dem Verfahren lag eine Beschwerde des Newsportals zu Grunde, das in Ungarn zu einer Geldstrafe wegen falscher und verleumdender Berichterstattung verurteilt worden war. Berichtet wurde über einen Verdacht, der sich gegen den ehemaligen ungarischen Präsidenten Janos Ader richtete. Der EGMR hat nun klargestellt, dass es sich bei dem Artikel um eine zulässige Verdachtsberichterstattung gehandelt hat und die Verurteilung somit gegen Art. 10 Abs. 1 EMRK verstieß.

 

Zum Sachverhalt:

2014 war es in Ungarn zu regierungskritischen Protesten gekommen. In deren Folge wurde vermehrt über Verfehlungen von Organisatoren und Sprechern der Protestbewegung berichtet. Auf diese Berichte reagierend, startete ein anderes Internetportal eine Initiative, in der Menschen aufgerufen wurden, über eigene kleinere Verstöße in der Vergangenheit zu berichten. Die Initiatoren wollten damit aufzeigen, dass es sich bei den Berichten über die Personen aus der Protestkampagne um eine übertriebene „Schmierkampagne“ handele.

Einer der eingegangenen Beiträge stammte vom ehemaligen Chefredakteur eines Politikmagazins. Dieser gab an, einige Tage mit Janos Ader im Militärgefängnis gesessen zu haben. Der Chefredakteur sagte, man habe sich damals erzählt, dass Ader dort gewesen wäre, weil er betrunken mit einer Waffe um sich geschossen habe.

In einem Bericht über die Solidaritätskampagne berichtete „index.hu“ unter anderem von dieser Geschichte. Die Wiedergabe der Aussage ergänzte „index.hu“ um den Hinweis, dass es unwahrscheinlich sei, dass Ader mit einer Waffe um sich geschossen und deswegen kurzeitig interniert worden sei. Bei einem solchen Vergehen, so der Bericht, hätte mit Sicherheit eine längere Strafe gedroht. Insoweit sei die Geschichte höchstwahrscheinlich erfunden. Weiter wurde angegeben, dass man im Büro des Präsidenten nach einer Stellungnahem gefragt habe. Die entsprechende Stellungnahme wurde kurze Zeit später veröffentlicht. Zwar wurde zugegeben, dass Ader zur fraglichen Zeit im Militärgefängnis gewesen sei. Der Grund habe aber darin gelegen, dass er während einer Wachschicht eingeschlafen sei. Nach diesem Statement veröffentlichte „index.hu“ einen weiteren Artikel, in dem die Geschichte zusammengefasst und um die Stellungnahme des Präsidialbüros ergänzt wurde.

Ader ging danach zivilrechtlich gegen “index.hu“ vor. Das Newsportal habe durch die Verbreitung falscher Tatsachen sein öffentliches Ansehen beschädigt. In erster Instanz wurde der Anspruch mit der Begründung abgewiesen. In der zweiten Instanz wurde „index.hu“ dagegen zu einer Geldstrafe von 1.500 € verurteilt, weil es bei dem Bericht über Ader nicht um für die Öffentlichkeit relevante Informationen gegangen sei; er sei weder Teil der Proteste gewesen, noch habe er Regierungsmaßnahmen veranlasst, gegen die sich selbige richteten. Die „Kúria“ (oberstes Gericht) schloss sich dieser Argumentation weitgehend an, stellte aber geleichwohl fest, dass „index.hu“ ausdrücklich Zweifel am Wahrheitsgehalt der Geschichte geäußert hatte und reduzierte daher die Strafe auf 120 €. Eine Klage gegen diese Strafe beim ungarischen Verfassungsgericht hatte keinen Erfolg. Aus diesem Grund wendete sich index.hu an den EGMR.

 

Zur Entscheidung:

Der EGMR stellte zunächst fest, dass es in der Entscheidung um eine Abwägung zwischen Artikel 10 EMRK und Artikel 8 EMRK gehe. Dabei wird einmal mehr die Bedeutung der Presse für eine Demokratie als „public watchdog“ herausgehoben. Bei den Gegenständen der Berichte über Personen sei zwischen die für die öffentliche Debatte relevante Tatsachen und „geschmacklosen Anschuldigen“ aus dem Privatleben zu unterscheiden. Hierbei zieht der EGMR die bekannte Linie zwischen Berichtenswertem auf der einen und sensationsheischenden, nur auf die Neugierde der Leserschaft abzielenden Berichten auf der anderen Seite nach.

Zur Einordnung des Artikels geht der EGMR darauf ein, dass der Bericht im Kontext einer medialen Kampagne veröffentlicht wurde, die wiederum eine Reaktion auf negative Berichte über Oppositionelle gewesen sei. Insofern stehe die gesamte Debatte in einem Kontext von öffentlichem Interesse. Diesen hätten die nationalen Gerichte verkannt. Dies gelte umso mehr, als dass es sich bei Ader um einen bekannten Politiker handle. Seine Handlungen während der Militärzeit, zumal es um Verfehlungen ging, die sanktioniert wurden, fielen nicht in den Bereich seines Privatlebens. Somit unterfielen die Äußerungen im Artikel, entgegen der Auffassung der nationalen Gerichte, den Kommunikationsgrundrechten.

Hinsichtlich der Abwägung mit Art. 8 EMRK betont der EGMR, dass „index.hu“ klargemacht habe, dass die Behauptung, Janos Ader habe um sich geschossen, wahrscheinlich nicht wahr sei. Der Seite käme zudem zu gute, dass die Stellungnahme des Präsidialbüros am selben Tag im exakten Wortlaut in einem weiteren Artikel veröffentlicht wurde. Der EGMR referiert auf seine eigene Rechtsprechung und stellt fest, dass ein Journalist für die Verbreitung der Aussagen Dritter in einem Interview nicht haften soll, wenn dies einen Beitrag zu einer öffentlichen Debatte behindert. Dies sei hier der Fall, weil es in dem Bericht unter anderem um die „Solidaritätskampagne“ ging. Aus diesem Grund erklärte der EGMR die Strafe für konventionswidrig.

Mit dem Urteil stellt der EGMR klar, dass Verdachtsberichterstattung auch nach Maßgabe der EMRK einen hohen Schutz genießt und nur mit sehr guten Gründen beschränkt werden kann. Selbst wenn es wahrscheinlich ist, dass der Verdacht sich als falsch herausstellt, darf berichtet werden – zumindest, wenn klargestellt wird, dass der Wahrheitsgehalt zweifelhaft ist. In diesem Kontext dürfte aber insbesondere der Bezug zu der „Solidaritätskampagne“ einen wesentlichen Beitrag geleistet haben. Aufgrund der Tatsache, dass intensiv über mögliche Vergehen von Oppositionellen berichtet wurde, enthält ein Beitrag über mögliches Fehlverhalten eines führenden Regierungsmitglieds auch Kritik an der Regierung, gerade auch weil der Wahrheitsgehalt unklar ist. Schon hierin liegt, wie auch der EGMR betont, ein Beitrag zur öffentlichen Debatte über die mögliche „Schmierkampagne“ gegen die Proteste.

Urteil abrufbar unter BeckRS 2023, 23119