Bundesverfassungsgericht: Recht auf Vergessen auch bei schweren Straftaten

Bei Abwägung zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrechten muss besonders der zeitliche Abstand zur Tat beachtet werden

Beschluss des Ersten Senats vom 6. November 2019 – 1 BvR 16/13 (Recht auf Vergessen I)  

 

Die Richter des Bundesverfassungsgerichts haben das Recht auf Vergessen im Netz gestärkt, indem sie der Verfassungsbeschwerde eines im Jahr 1982 wegen Mordes verurteilten Mannes gegen ein Urteil des Bundesgerichtshofs stattgaben. Dieser hatte sich dagegen gewehrt, dass im Onlinearchiv des Nachrichten-Magazins „Der Spiegel“ immer noch ihn identifizierende Artikel kostenlos abrufbar sind. Bei Eingabe seines Namens in die Suchmaschine werden die Artikel unter den ersten Treffern angezeigt.

Der Bundesgerichtshof hatte zuvor eine Klage des Mannes gegen die uneingeschränkte Bereitstellung von über 30 Jahre alten identifizierenden Presseberichten im Onlinearchiv abgewiesen. 

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts argumentierte, dass bei der Abwägung zwischen Pressefreiheit und Persönlichkeitsrechten besonders der zeitliche Abstand zur Tat Berücksichtigung finden müsse. Während die Rechtsprechung für die aktuelle Berichterstattung über Straftaten in der Regel dem Informationsinteresse den Vorrang einräume und jedenfalls bei rechtskräftig verurteilten Straftätern grundsätzlich auch identifizierende Berichte als zulässig ansehe, habe sie gleichzeitig klargestellt, dass das berechtigte Interesse an einer identifizierenden Berichterstattung mit zunehmendem zeitlichen Abstand zur Tat abnehme. Deshalb seien zumutbare Vorkehrungen gegen diese Auffindbarkeit in Betracht zu ziehen gewesen.

In ihrer Argumentation betonten die Richter insbesondere die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Dimension Zeit. Während Informationen in Printmedien und Rundfunksendungen der Öffentlichkeit nur in einem engen zeitlichen Rahmen zugänglich gewesen und anschließend weitgehend in Vergessenheit geraten seien, blieben sie heute – einmal digitalisiert und ins Netz gestellt – langfristig verfügbar. Damit entfalteten sie ihre Wirkung nicht nur gefiltert durch das flüchtige Erinnern im öffentlichen Diskurs, sondern blieben unmittelbar für alle dauerhaft abrufbar. Die Informationen könnten nun – so die Richter – jederzeit von völlig unbekannten Dritten aufgegriffen werden. Sie könnten dekontextualisiert eine neue Bedeutung erhalten und in Kombination mit weiteren Informationen zu Profilen der Persönlichkeit zusammengeführt werden, wie es insbesondere mittels Suchmaschinen durch namensbezogene Abfragen verbreitet sei.  

Hintergrund war der spektakuläre Fall eines Mannes, der im Jahr 1982 rechtskräftig wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden war, weil er ein Jahr zuvor auf einem Schiff zwei Menschen erschossen und einen weiteren schwer verletzt hatte. Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ hatte in den Jahren 1982 und 1983 unter Nennung des vollen Namens des Täters mehrere Artikel veröffentlicht. Seit 1999 stellt die Spiegel Online GmbH die Berichte in ihrem Onlinearchiv kostenlos und ohne Zugangsbarrieren zum Abruf bereit.   

 

Quelle:

Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. November 2019, abrufbar unter: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2019/bvg19-083.html